„The journey is not based on increasing success,
rather on increasing awareness.
You are here to discover the deepest truth about yourself.“
(Pato Shoucair)
Wir sind wie das Meer.
Nimmt man das Meer als Bild für unser Leben, so finden die tagtäglichen Ereignisse sozusagen an der Wasser-Oberfläche statt. Wir leben in den westlichen Kulturen zumeist einen linearen Lebensentwurf, der mit der Geburt beginnt, dann die verschiedenen Stationen wie Schule, Ausbildung, Studium, Beruf, Karriere, Partner, Kinder durchläuft und mit dem Tod endet.
Diese Ereignisse geschehen.
Jeder Tag folgt auf den anderen. Aber jeder Tag hat nicht nur in der Länge 24 Stunden, sondern jede Stunde, jede Minute hat auch eine Tiefe. Doch was bei den vielen Ereignissen in unserem Leben in der Tiefe in uns passiert, ist eine andere Frage. Was fühlen wir? Fühlen wir überhaupt? Oder funktionieren wir nur? Wie intensiv nehmen wir die Erlebnisse wahr? Wie sehr sind wir im Augenblick? Wie achtsam? Wieviel Schönheit sehen wir? Würden wir jeden Moment auch in der Tiefe erleben, so hätten wir viel mehr Lebenszeit.
Durch die zusätzliche Dimension der Tiefe bekommt das Leben sozusagen mehr Volumen, so wie ein Würfel auch mehr “Inhalt” hat als ein gemessener Meter, so nimmt das Leben durch die Tiefe viel mehr Raum ein.
Die Wale sind da ein sehr interessante Lehrer, denn ihr Element ist das Meer. Und es gibt Walarten wie den Pottwal, der sehr tief tauchen kann, bis zu 3000 Meter. Als ich das erste Mal einen Pottwal beim Ab- und Auftauchen beobachtet, wurde mir klar, dass wir Menschen es genauso machen sollten. Wir sollten das Leben nicht nur an der Oberfläche erforschen, sondern in der Tiefe. Doch wir fürchten uns oft davor, daher halten wir uns gerne nur an der Oberfläche auf. Mit Ablenkungen, Beschäftigungen, Tätigkeiten. Mit Social Media, Konsum und Spielkonsolen. Die meisten Menschen haben immer etwas zu tun und haben Angst, stehenzubleiben. Als wenn sie instinktiv wüssten, dass sie mit dem Stehenbleiben wie ein Schwimmer, der nicht mehr mit den Armen rudert in die Tiefe sinken würden .. und ertrinken.
Doch so ist es nicht. Wir sollten uns vielmehr bewußt immer mal wieder auf einen kleinen Tauchgang begeben, um unser Selbst und das Leben wie ein Forscher zu erkunden. Ganz bewußt und mit der Neugierde eines Forschers auf den eigenen Meeresgrund tauchen. Das kann die Stille sein, die wir zulassen. Ein ganzer Tag in Stille und Nichtstun. Oder ein langer Spaziergang am Meer, in Wald, ohne Handy! Fernseher aus, stattdessen ein Buch lesen. Auf einer Bank am See sitzen und die Enten beobachten. Die Gedanken laufen lassen. Gefühle zulassen. Freude zeigen, aber auch Traurigkeit. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, in die Tiefe zu gehen. Und es gibt unterschiedliche Tiefen, die man ansteuern kann. Nicht jeder Tauchgang muss gleich 1000 Meter hinab gehen.
Die Tiefe ist ein wunderbares Element und ich möchte dich einladen, jeden Tag deines Lebens zu vertiefen, um intensiver und bewusster zu leben.
MEIN ELEMENT DIE TIEFE
Mein Element ist das Wasser, die Tiefe, das Forschen, die Menschen, die Wale.
Dazu möchte ich dir eine Szene aus einem Buch schildern, das ich gerade schreibe:
„Ich liege im Zelt, es ist Mitternacht. Ich habe keine Uhr, aber das Tageslicht ist vor eineinhalb Stunden verschwunden, dann ist der Mond in seiner vollen Grösse hinter dem Berg emporgestiegen. Prall und wunderschön bescheint er jetzt die Wasseroberfläche. Ich bin in mein kleines Zelt gekrochen, habe mich in meinen Schlafsack gekuschelt, mit einer Wärmflasche an meinen Füssen. Ich höre den Ozean mit seinen wiederkehrenden Wellen, die an die Felsen spülen. Und den Wind, der die kleine Insel umkreist. Alles wie eine Art “Lullaby” das mich langsam in meinen Schlaf wiegt. Dann plötzlich ein Geräusch, das mich sofort hellwach werden lässt. Ein Blas! Ganz nah, als wenn der Wal direkt neben meinem Zelt schwimmt. Ich zerre panisch an dem Reisverschluss meines Schlafsackes und stürze hinaus in die Nacht. Fünf Schritte bis zu den Felsen, auf denen ich einen wunderbaren Überblick über die Bucht habe. Und da ist er. Ich sehe den dunkelgrauen Körper durch die Wasseroberfläche stossen. Gleichzeitig sehe ich den Blas, den er kraftvoll in die Höhe stösst. Ein feiner und hoher Strahl von Wasserdunst, der sich im Mondlicht langsam verteilt. Dann geht er kurz unter die Wasseroberfläche und taucht ein paar Meter weiter wieder auf. Diesmal zeigt er seinen langen glänzenden Rücken mit einer kleinen, gebogenen Finne, die so kennzeichnend für diese Walart ist .
Ein Finnwal! Wie anmutig, wie kraftvoll. Mein Herz pocht mir bis zum Hals und ich halte vor Spannung den Atem an. Er schwimmt gleichmässig und zügig an mir vorbei, rund 100 Meter weit draussen. Ich starre wie gebannt auf seine eleganten Bewegungen. Bei jedem Blas, den er ausstösst, scheint die Bucht zu vibrieren. Dieser Ton überträgt sich über den Granitfelsen, auf dem ich barfuss stehe, in alle meine Glieder. In dieser klaren Nacht, in dieser kompletten Stille dieser Insel inmitten des Fjordsystems des Pazifiks an der Westküste Canadas, bleibt die Zeit für mich stehen. Der Finnwal atmet mit seinem Blas aus und dann atmet er gleichsam ein und dieses Geräusch geht mir nochmals durch Mark und Bein. Ein Geräusch, das wie ein Echo in der ganzen Tayler Bucht zu hören ist. Ein Geräusch, das meine Zellen wieder erkennen, wie ein Urton, den ich noch nie so nah und gegenwärtig zuvor gehört habe, aber der mir sofort vertraut ist und mich lebendig und hellwach dastehen lässt. Im nächsten Moment wird die Stille wieder durchbrochen, diesmal mit einem Sound aus dem Lautsprecher, der neben meinem Zelt in einem der Bäume hängt. Eine Aufnahme, die aus dem Unterwassermikrophon übertragen wird, das in drei Metern Wassertiefe unter dem Felsen angebracht ist. “Der Finnwal macht nur genau ein Geräusch, das wir Menschen in unserer Frequenz wahrnehmen können. Es hört sich an wie ein “Star Wars”-Schwert, das aus der Scheide gezogen wird”, hatte Hermann uns am Morgen bei einer Präsentation vor einer kleinen Reisegruppe, die unsere Walforscherstation besuchte, erzählt. Ja, da war das Star Wars Schwert!
Ich laufe die Stufen zu dem “lab” hinunter, der Holzhütte mit alle den Forschungsequipment direkt auf den Klippen zur Bucht.Dort hat Amanda schon auf “Record” gedrückt und nimmt die Sounds von dem Hydrophon auf. “Ist das ein Finnwal-Puls?”, frage ich sie. Sie nickt nur, lauscht mit den Kopfhörern auf den Ohren konzentriert den ankommenden Geräuschen, die sie minutiös in einem Logbuch notiert. Ich blicke aus dem Fenster in den Mondschein und zucke jedes Mal zusammen, wenn der Puls wieder ertönt…. Die Welt verschwindet, wenn man darin aufgeht, sagte einst der Philosoph Martin Heidegger. Genau so ist es in dieser Nacht. Ich bin Walforscherin und mitten in meinem Element.“
Ja, das Forschen ist mein Element. Genauso wie schreibend die Welt zu entdecken. Oder reisend. Und in die Tiefe zu gehen. In mir. Mit einem Buch. In einer Meditation. In meinen Yoga-Übungen. Mit Menschen, die ich begleite.
Ich bin in meinem Element, wenn ich tiefe Gespräche führe. Wenn ich von Herzen lache. Mich mit anderen freue. Die Nähe eines lieben Menschen genieße. Den anderen sehe und fühle. Mit Tieren kommuniziere. Wenn ich staune. Wenn ich still bin. Wenn ich tanze. Wenn ich meinen Körper herausfordere und spüre. Am Morgen eines jeden Tages entscheide ich mich bewußt dafür, in mein Element zu gehen, mit dem was ich denke, fühle und tue. Das ist wahre Freiheit und tiefes Glück für mich. Ein tiefes Leben mit intensiven Tagen.