Bornholm, 01.08.2021
„Schreibend erforsche ich die Welt“ – so sah ich meinen Drang, etwas in den Computer zu tippen schon immer. Ich füge jetzt hinzu: Schreibend verstehe ich die Welt! Das ist mein Ziel, mein Wunsch, meine Vision ab jetzt mit diesem Blog. Einfach mal die Gedanken, inklusive der -Sprünge in die Tastatur fließen lassen. Vielleicht setzt sich daraus ja etwas zusammen, das mir Antworten gibt. Es ist ein bisschen wie bei einem Kreuzworträtsel: Erst hat man nur einen Buchstaben und der sitzt auch dummerweise mitten im Wort. Dann knobelt man an dem waagerecht anliegenden Wort, in der Hoffnung, dass es einem auch Aufschluss über das Erste gibt. Und wenn man lange genug darum herum rätselt, kommt einem für alles die Lösung.
So versuche ich jetzt auch, das große Unbekannte zu entschlüsseln, das gerade um mich herum passiert. Denn mein kleines Hirn kann es nicht verstehen…. Alles basierte bis jetzt auf einer Grundordnung, die für mich ein Fundament hatte. Demokratie. Meinungsfreiheit. Rechtsstaat. Wahlfreiheit. Freiheit an sich. Spätestens seit meinem Politik-Studium ließ ich diese Grundpfeiler an mich ran und verstand, dass das alles zu einem geordneten Miteinander dazugehört. Ich las unzählige Geschichtsbücher und Abhandlungen aller Philosophen, um sowohl der Historie unserer modernen Gesellschaft als auch ihren Werten auf die Spur zu kommen. Bereits an der Uni spürte man, mit wem man welche Theorie nach der Vorlesung in der Kantine diskutieren konnte. Gruppen-Dazugehörigkeit. Toleranz den Anders-Denkenden gegenüber.
Die Unfreiheit, die Diktaturen dieser Welt wurden haarfein analysiert und man lehnte sich zufrieden in den gepolsterten Sessel des Auditoriums zurück, da es uns hier ja so gut ging und wir ja so frei waren. Ich dachte, ich hätte vieles verstanden, einiges gelernt und ein wenig begriffen – von der Welt auf der wir uns bewegen, von uns Menschen, unserem Verhalten, unseren Entscheidungen, unserer Moral, unserer Kultur und dem, was wir dafür halten. Und nun sitze ich da und muss mir eingestehen: Nach rund 18 Monaten mit Corona verstehe ich eigentlich gar nichts mehr und frage mich langsam, ob das, was ich vorher gedacht hatte, zu verstehen, vielleicht gar nicht da war. Eine Illusion, Fata Morgana, alles Einbildung? Alles, was geordnet schien, gerät durcheinander, alles, was ich gemeint hatte, zu kennen, wirkt so fremd. Menschen, die mich früher herzlich in den Arm genommen haben, wenn sie mich sahen, halten jetzt Abstand: „Ich bin ja zweimal geimpft, aber bin halt vorsichtig“. Brot, das ich gerne den Menschen geschenkt habe, weil es auch meinen Händen mit Liebe gebacken war, wird abgelehnt. Ist ja auch irgendwie unhygienisch und meine Küche steht ja auch nicht unter der Aufsicht des Gesundheitsamtes. Freunde, mit denen man früher über die Gott und die Welt philosophieren konnte, verfallen in ein betretenes Schweigen, wenn man über Corona oder die Impflicht spricht. Licht an, Musik aus, die Party ist vorbei, alle gehen jetzt nach Hause….
Ich lese in dem neuen Buch von Juli Zeh „Unter Menschen“ : „In einem Buch über das Dritte Reich hat Dora mal eine Beschreibung gefunden, wie früh in kippenden Gesellschaften die Angst das Ruder übernimmt. Wie sich fast unmerklich neue Kriterien in die kleinsten Alltagsentscheidungen einschleichen. Was man zu wem noch sagen darf. Wann man ein Restaurant besser verlässt oder einen anderen Weg zur Arbeit nimmt. Das Gehirn gewöhnt sich an die Vorgaben der Angst, integriert sie ins Denken und verwischt die Spuren. Man leidet nicht unter der Angst, sondern praktiziert sie. Man passt sich der veränderten Lage an, bis man schmerzlos mit dem Hintergrund verschmilzt. Dieser Mechanismus sorgt dafür, dass sich das Schreckliche auf der Welt ständig wiederholt. Es gibt nur ein Mittel dagegen: Zu bekämpfen ist nicht das Böse, sondern nur die eigene Feigheit.“ (Juli Zeh)

Zu bekämpfen ist nicht das Böse, sondern nur die eigene Feigheit„. Das sitzt! Denn wie fühle ich mich, wenn Leute die Straßenseite wechseln, um mir nicht zu nahe zu kommen. Oder sogar ihren Hund von meinem Bein wegziehen, denn schließlich macht der Virus ja auch vor Haustieren keinen Halt. Oder wenn sie mich bissig hinter den Strich verweisen, der sorgfältig die Abstände an der Schlange vor der Kasse markiert. Halte ich die Klappe oder äußere ich mich? Werde ich stumm oder habe ich eine Stimme? Ja, wir nehmen schon, wie Juli Zeh es beschreibt, einen anderen Weg zur Arbeit. Ja, wir gehen nicht mehr dorthin, wo ein Menschenauflauf auf uns wartet. Ja, wir reisen nicht mehr in Länder, die womöglich ihre Grenzen schließen und uns der Rückweg versperrt scheint. Ja, wir tanzen nicht mehr und wenn das wieder erlaubt ist, ist uns die Lust daran schon lange vergangen. Lieber alles sicher haben. Abstand halten. Individualisieren. Cokooning war ja schon vor Corona ein Trend. Das Leben ist ja bekanntlich auch lebensgefährlich. Kippende Gesellschaften… Sind wir mittendrin?

Grüße von der Gedankeninsel!

Steffi

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